Bonjour tout le monde! 10.3.13
„HALBZEIT!“, schoss es mir vor ein paar Tagen plötzlich
durch den Kopf. Tatsächlich bin ich jetzt – es ist kaum zu glauben – schon
sechs Monate hier und bin überglücklich darüber.
Ich habe das Gefühl, wirklich hier angekommen zu sein,
meinen Platz gefunden und mir mein eigenes kleines Leben aufgebaut zu haben.
Noch immer gefällt mir die Stadt sehr und ich bin jeden Tag
wieder begeistert, wenn ich aufstehe und einen strahlend blauen Himmel und
Sonnenschein sehe. Den Gedanken, dass ich den nächsten Winter wahrscheinlich
wieder im grauen Deutschland verbringen muss, verdränge ich gerne; da ist mir
das südfranzösische Klima, auf das die Franzosen so stolz sind, eindeutig
lieber.
Zu dem für diesen Rundbrief vorgeschlagenen Thema
„kulturelle Unterschiede“ kann ich nur Kleinigkeiten sagen, da sich die
französische Kultur der deutschen nach meinem Eindruck sehr ähnelt.
Diese Kleinigkeiten jedoch fangen schon bei der Begrüßung
an. „Les bisous“, da kommt man nicht drum herum. Egal, wie groß die Gruppe ist,
zu der man hinzu stößt, die Küsschen gehören zur französischen Kultur, sie
müssen sein. Ob man sich schon kennt oder nicht, ist hierbei irrelevant.
Allerdings ist damit noch längst nicht alles gesagt, denn
Küsschen sind nicht gleich Küsschen.
Zum einen gibt es regionale Unterschiede; in Montpellier
gibt man sich drei, in Paris beispielsweise nur zwei Küsschen. Falls es mal
schnell gehen muss oder es sich um eine sehr große Gruppe handelt, darf man
auch mal nur eins geben, dann jedoch mit Ansage bei jeder Person (ob das Zeit
spart, ich bin mir nicht sicher).
Zum anderen gibt es auch unterschiedliche Arten, diese
Gebräuchlichkeit auszuführen. Variante 1 besteht darin, nur leicht die Wangen
des anderen zu streifen und die Kussgeräusche wegzulassen, sehr beliebt zum
Beispiel bei Kindern – oder Ausländern, die der ganzen Sache noch skeptisch gegenüberstehen. Variante 2 beschreibt die normalen
Berührungen der Wangen mit Kussgeräuschen, bei Variante 3 handelt es sich
hingegen um dicke Schmatzer und ein „Ça va, ma puce?“ – wörtlich
übersetzt „Wie geht’s, mein Floh“ – bei älteren Menschen nicht ungewöhnlich.
Wie man sieht, das Ganze ist schon fast eine
Kultur für sich.
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Marie und ich bei der
Karnevalsparty an der Theologie-Uni, als wir versucht haben, die
rheinländischen Traditionen einzuführen – die Franzosen waren eine Mischung aus
verwirrt und entsetzt, als plötzlich alle Deutschen anfingen, Karnevalslieder
auswendig zu singen |
„Une baguette, s’il vous plaît!“, nicht ohne Grund
einer der Sätze der französischen Sprache, die man als erstes beherrscht. Grundsätzlich
lässt sich sagen, Baguette gibt es immer und überall. Die Franzosen haben ein
Talent dafür, es mit verschiedensten Sachen zu kombinieren, was uns zwar
manchmal komisch vorkommt, jedoch nicht hinterfragt werden sollte, wenn man
keine verständnislosen Blick ernten möchte.
Angefangen beim Frühstück. Es gibt hier keine
große Frühstückskultur; selbst in Jugendherbergen wird häufig nur trockenes
Baguette mit etwas Marmelade angeboten, welches man dann in den Kaffee oder die
Milch taucht (ja, zusammen mit der Marmelade!).
Zum Mittagessen gibt es ebenfalls Baguette
als Beilage, falls es sich um ein warmes Essen handelt. Ansonsten Sandwiches –
auch nicht unmöglich: Baguette mit Pommes belegt.
Die dritte Mahlzeit am Tag, auf die auch
deutlich mehr Wert gelegt wird, als in Deutschland, ist das „gouter“ – der
Nachmittagssnack, etwa wie Kaffee und Kuchen. Beliebt ist hier jedoch auch die
einfachste Art, sich energiereich zu stärken, und zwar Baguette mit einem Stück
Schokolade.
Zu guter Letzt das Abendessen mit bekanntlich mehreren Gängen. Zur
Vorspeise wird Baguette serviert, zur Hauptspeise, und nicht zu vergessen, zum
Käse danach. Nur für die Nachspeise darf man sich für gewöhnlich eine kleine
Pause gönnen.
Wer behauptet, die Deutschen würden viel Brot
essen, der hat noch nie Franzosen Baguette essen sehen.
Allerdings gibt es auch beim Baguetteessen einige
Fauxpas. Nur ein Beispiel dafür wäre beim Frühstück, denn wer hier nach Käse,
geschweige denn nach irgendetwas anderem Salzigen fragt, wird sofort als
Nicht-Franzose abgestempelt.
Auch wenn es sich hierbei vielleicht nicht um
die „kulturellen Unterschiede“ handelt, die man bei dem Begriff erwarten würde,
sind es doch die Dinge, die einen häufig zum Schmunzeln bringen und einem
bewusst machen: Ich bin in Südfrankreich.
Seit dem letzten Rundbrief ist natürlich auch
viel passiert. Weihnachtsfeiern mit blau und pink glitzernder Dekoration, ein
großer Weihnachtsgottesdienst in der Adventszeit, zu dem Gemeindemitglieder
jeden Alters ihren Teil beigetragen haben – sei es ein Theaterstück, ein
musikalischer Beitrag oder ein Schattenspiel (Marie und ich haben neben der
ganzen Vorbereitung mit den unterschiedlichen Gruppen mehr oder weniger
erfolgreich und improvisiert mit Flöte und Klavier ausgeholfen) und viele Projekte
mit den Kindern aus dem Centre de Loisirs, in dem wir Mittwochs arbeiten, wie
z.B. Ausflüge in den Zoo, zum Bowlen oder einen Crêpe-Nachmittag, bei dem jeder
einmal seinen Crêpe durch die Luft wirbeln durfte.
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Meine
Kindergottesdienstgruppe bei der Weihnachtsfeier |
Über Weihnachten war ich zu Hause, was zwar
etwas merkwürdig war, weil mir in einem Moment alles total normal vorkam, im
nächsten wiederum völlig ungewohnt, aber trotzdem hab ich die Zeit sehr
genossen und mich gefreut, meine Familie und Freunde wiederzusehen.
Anschließend haben wir mit mehreren Freiwilligen
der EKiR unseren Mitvolontär Jens in London besucht.
Auch das war sehr schön. Wir haben uns die
Stadt angeguckt, Silvester vor dem London Eye gefeiert und uns natürlich viel
über unsere Erfahrungen während dieser
ersten sechs Monate ausgetauscht.
Ein für mich sehr schönes Gefühl war, diesen
Urlaub total genossen zu haben, natürlich auch etwas traurig zu sein, wieder
fahren zu müssen, aber auf der anderen Seite zurück nach Montpellier zu kommen
mit dem Gedanken: „Jetzt bin ich wieder zu Hause!“.
Vor allem das frühlingshafte Wetter, das uns
empfing und uns dazu veranlasste, im Januar draußen im Park zu frühstücken und
eine Fahrradtour an den etwa 15km entfernten Strand zu machen, versöhnte uns
mit dem Alltag und ließ die zwei Monate danach wie im Flug vergehen. Bis vor
zwei Wochen auch schon das Ski Camp vor der Tür stand.
Dieses organisiert der Pfarrer Joël seit einigen Jahren für
Jugendliche von 11 bis 16 Jahren. Zwar ist der Träger die protestantische
Kirche, allerdings muss man weder Mitglied der Gemeinde, noch evangelisch sein,
um mitzufahren.
Marie
und ich durften als zwei von acht Betreuern und einer Gruppe von 43
Jugendlichen dabei sein. Wir waren in einer Unterkunft in dem von hier etwa
sechs Stunden entfernten St. Julien-en-Vercors, in der Nähe von Grenoble,
untergebracht, von der wir dann jeden Morgen mit einem Reisebus zur Skistation
gebracht und um 17 Uhr wieder abgeholt wurden.
Die
14 bis 16-jährigen durften in Dreiergruppen alleine Ski fahren, die Jüngeren
teilten wir in Gruppen danach auf, wie gut sie schon fahren konnten und
begleiteten sie dann mit je ein oder zwei Betreuern pro Gruppe.
Dadurch,
dass wir unter Betreuern mittags meist tauschten, hatten wir viel Abwechslung.
Besonders lustig war es mit einer Gruppe Jungs eigentlich mittleren
Ski-Niveaus, die jedoch am liebsten den ganzen Tag nur schwarze Pisten „Schuss“
runter gefahren wären – tatsächlich, den Begriff „Schuss“ fahren
gibt es hier auch, nur eben mit französischer Aussprache.
Sobald wir wieder in der Unterkunft angekommen waren, jeder sich
geduscht hatte und wir zu Abend gegessen hatten, ging es quasi ohne Pause
weiter mit dem Abendprogramm.
Das Projekt des Camps war eine Gerichtsverhandlung zum Thema
„War Petrus Jesus treu?“.
Dazu bildeten wir drei Gruppen, die Kläger, die Verteidigung
und die Presse.
Im Anschluss wurden Bibeltexte gelesen und die Rollen der Zeugen,
Anwälte, Psychologen und weiteren Beteiligten verteilt. Es wurden Argumente
gesammelt, Beweisstücke hergestellt (bespielweise die Taschentücher, mit denen
Petrus sich die Tränen getrocknet hat) und sich eine Taktik überlegt, die
Richter zu überzeugen.
Zusammen mit einer weiteren Betreuerin war ich für die
Journalistengruppe zuständig. Neben Karikaturen, seriösen Artikeln und
skandalösen Schlagzeilen, die wir an unser selbstgebasteltes schwarzes Brett
pinnten, bereiteten wir kurze, talkshowähnliche Interviews vor, die wir während
des Prozesses, der am letzten Tag stattfand, vortrugen.
Das Abendprogramm endete zwischen 22 und 22:30 Uhr nach dem
„temps spi“, einem „spirituellen Moment“, der je von einem von uns Betreuern vorbereitet
wurde und meist aus Gesang, einem philosophischen oder biblischen Text,
Kerzenschein und einem Gebet bestand.
Da Joël so ziemlich jeden zum singen motivieren kann, war auch dies immer
ein sehr schöner Abschluss.
Für
die Betreuer endete der Abend allerdings erst nach der Vorbesprechung für den
nächsten Tag beim „cinquième“ – der fünften Mahlzeit am Tag, bestehend aus
Wein, Tee, Käse und Schokolade, gegen 12 bis 1 Uhr.
Als
Bilanz kann man sagen, dass man zwar nach dem Camp mit Schlafmangel und
ziemlich erschöpft ins Bett gefallen ist, aber dennoch super zufrieden und
glücklich war.
Bis
auf ein paar an einer Grippe Erkrankte hat alles blendend funktioniert; das
Skifahren hat Spaß gemacht, die Landschaft war wunderschön, die Stimmung innerhalb
der Gruppe war super, sowohl auf den Pisten als auch beim Abendprogramm waren
die meisten noch viel motivierter, als ich zu hoffen gewagt hatte, und auch
wenn wir dieses Mal als Betreuer mitgefahren waren, hatten wir am Ende ein
wenig das Gefühl, von einer Klassenfahrt wiederzukommen.
Was
meine Arbeit hier angeht, waren dies wohl die intensivsten und schönsten
Momente bisher.
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Auf der Spitze des Pic
Saint Loups, einem 658m hoher Berg hier in der Nähe, auf den wir gestern geklettert
sind |
Insgesamt
geht es mir super und ich freue mich auf das nächste halbe Jahr in Montpellier!
Nächste Woche geht es für uns nach Tallinn zum
Zwischenseminar der EKiR, worauf ich ebenfalls sehr gespannt bin.
Viele liebe Grüße
Jana